Im Rahmen der diesjährigen GOR in Düsseldorf – dem jährlichen Branchentreff akademischer und professioneller Online-Forscher – wurde ich im Vorfeld von Lisa Neundorfer von der IFAK eingeladen, als Experte an einem Roundtable zum Thema „Qualitative Online-Marktforschung – Status quo und Qualitätskriterien“ teilzunehmen. Neben mir waren mit Ilka Kuhagen von IKM, Gerhard Keim von GIM, Andreas Woppmann von MAM und Frank Lüttschwager von earsandeyes weitere engagierte und erfahrene Marktforscher aus Instituten und Unternehmen als Experten geladen. Die Veranstaltung fand am Mittwochvormittag statt und war nicht nur für mich das persönliche Highlight der GOR 2011. Aus den geplanten 60 wurden kurzweilige 90 Minuten, was nicht nur am Thema, sondern auch an der gewählten Form eines Roundtables lag.
In einem Stuhlkreis aus ca. 25 Experten und Interessierten führte Lisa Neundorfer kurz ins Thema qualitativer Online-Marktforschung ein, um mit einer provokativen Frage die offene Diskussion zu starten: Braucht man im Zeitalter Sozialer Medien überhaupt noch professionelle Marktforscher?
Warum diese Frage? Nun , Online-Marktforschung – ob qualitativ oder quantitativ – arbeitet in aller Regel mit Feldstudien als Informationsquelle. Personen werden ausgewählt und zu Interviews, Diskussionsgruppen oder Einzelgesprächen eingeladen. Im Zeitalter des Internets werden diese Personen häufig aus einem Online-Panel ausgewählt. In Sozialen Medien wie facebook muss man Personen aber nicht auswählen und einladen, damit sie Meinungen, Ansichten und Bewertungen kundtun. Sie machen dies aus eigenem Antrieb, regelmäßig und oft. Die Branche nennt das Produkt dieses Antriebs „user generated content“. Wozu braucht man dann noch den Marktforscher, wenn man diesen content „just in time“ sichten, analysieren und interpretieren kann?
Die spontane Antwort der Experten war typisch Marktforschung: man braucht sie, aber … Qualitative Online-Marktforschung, ob mit ausgewählten Teilnehmern oder in offenen Communities und Netzwerken braucht Interpretation und darauf verstehen sich Marktforscher bestens.
Warum dann aber? Marktforscher sind akademisch, konservativ und nüchtern. Attribute, die in innovativen Zeiten gegenüber Ansprüchen wie sexy, fast und easy scheinbar an Attraktivität verlieren. Beim Thema Technik und Innovation werden Marktforscher zum „late follower“. Das „Agenda setting“ betreiben andere.
Klingt nach großem Katzenjammer. War es aber nicht. Die anwesenden Experten und Interessierten waren sich bewusst, dass man eine Zukunft hat, wenn man weiterhin die eigenen Werte streng und selbstbewusst vertritt und gleichzeitig neue Methoden und Möglichkeiten neugierig als Chance begreift. Gerade die Möglichkeiten sozialer Netzwerke und auch mobiler Vernetzungen der Menschen können für die qualitative Marktforschung ein goldenes Zeitalter einläuten. Oder wie es Ilka Kuhagen treffend formulierte: the limit is the sky. Klingt doch schon mal sexy.
Was sind aber die eigenen Werte und wann werden diese vielleicht zum Limit der eigenen Möglichkeiten? Mit dieser Frage wurde zum zweiten Teil der Diskussion zur Zukunft qualitativer Online-Marktforschung übergeleitet: Wie soll sich die Branche gegenüber dem schleichenden Prozess verschwimmender Grenzen zwischen Forschung und Marketing verhalten? Sollen sie weiterhin beim eigenen Handeln streng auf eine klare Trennung bestehen oder soll Marktforschung sich den Anforderungen eines Marketings nähern, indem man eigene Standesregeln überschreitet? Die ESOMAR hat in einer kürzlich veröffentlichten „Draft Guideline On Social Media Research“ klar Stellung bezogen: sie fordert eine klare Trennung zwischen Forschung und Marketing.
Doch die Akteure modernen Marketings nutzen bereits die Instrumente der Marktforscher, um Produkte zu bewerben oder Fürsprecher ihrer Marken zu generieren. So werden zum Beispiel in Open Innovation Prozessen und Co-Creation Plattformen Instrumente der qualitativen Online-Marktforschung ohne Beteiligung von Marktforschern verwendet, um Produkte zu optimieren oder neu zu entwickeln – und dies in unmittelbarer Nähe zu Abverkauf, Werbung und Adressgenerierung.
Dies muss für die Online-Marktforschung ein Warnsignal sein. Die Welt des Marketings wartet nicht auf uns Forscher. Es droht der Verlust des Hoheitsrechts über die eigenen Methoden und Instrumente. In Zukunft wird es dem Internet-User immer schwerer fallen, zwischen anonymer, datengeschützter Forschung auf der einen Seite und Marketingkampagnen auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Dass dies zum Problem werden kann, wurde durch Monika Taddicken (Vorstandsmitglied der DGOF) bekräftigt, die aus ihren Kommunikationsforschungen berichten konnte, dass die Bereitschaft „user generated content“ ungefiltert im Internet zu produzieren, rückläufig ist. Der User fängt an, sich einer Dauerbeobachtung zum Zweck der Werbung und des Verkaufs zu entziehen. Wenn dieser User aber nicht zwischen Marketing und Marktforschung unterscheiden kann, wird er sich auch der Forschung verweigern.
Angesichts dieser Entwicklung kann es seitens seriöser Marktforschung nur eine Konsequenz geben: Online-Marktforschung muss anonym, transparent und datengeschützt bleiben. Die Branche muss es aber gleichzeitig verstehen, den Wert dieser Absage den Entscheidern im Marketing zu verdeutlichen. Denn diese sind die Auftraggeber und Profiteure vernünftiger Forschung. Keine leichte Aufgabe, wie Andreas Woppmann als betrieblicher Marktforscher bei MAM berichten konnte. Dieser Konflikt zwischen Wünschen des Marketings und Grenzen der Marktforschung ist bei ihm alltäglich und konkret.
Darüber hinaus müssen den Internetnutzern klare Signale gesendet werden, wo Marktforschung aufhört und Marketing anfängt. Die Initiative der Markt- und Sozialforschung kann hier nur ein Anfang sein. Dazu gehört auch ein verantwortungsvoller Umgang mit Urheberrechten im Internet.
Aus meiner täglichen Zusammenarbeit mit qualitativen Marktforschern weiß ich, wie schwer sich Einige bei der Kombination traditioneller Methoden mit modernen Medien tun. Vielleicht ist diese Langsamkeit am Ende ein Vorteil. Doch Vorsicht: als „late follower“ steht man nicht am Anfang der Entwicklung: wir sind bereits mitten drin.